„Einen anderen als den, den sie hat“ – darauf könnten sich wahrscheinlich die meisten Musikpädagog:innen einigen, wenn sie gefragt würden, welchen Musikunterricht die Sekundarstufe 1 braucht. Darüber hinaus besteht mit Blick auf die Gestaltung des Musikunterrichts allerdings kaum Einvernehmen. Gleichzeitig führt die Frage des Tagungsthemas unweigerlich zu normativen Überlegungen und fordert eine Positionierung ein, wenn es um Entscheidungen über Inhalte, Strategien und Ziele des Unterrichts geht.
Als sozialer Prozess lässt sich Bildung – auch in der Sekundarstufe 1 – mit Alfred Schäfer als „Personwerdung des Menschen im Spannungsfeld zwischen Individuierung und Vergesellschaftung“ verstehen (Schäfer 2009, S. 186). Auch das Werden der musikalischen Person lässt sich in diesem Feld verorten. Für die beiden Vortragenden sind dabei zwei Aspekte von besonderer Bedeutung:
die Entwicklung einer individuellen ästhetischen und künstlerischen Ausdrucksfähigkeit z.B. im Bereich des Klassenmusizierens und die Einbindung dieser Entwicklung in einen gesellschaftlichen Rahmen.
Beide Aspekte bedingen sich gegenseitig. Soziale Rückmeldung ist für die Entfaltung des eigenen Ausdrucks ebenso basal wie die individuellen ästhetischen Gestaltungsfähigkeiten für gesellschaftliche Transformationsprozesse. Ein solches wechselseitiges Verhältnis legt nahe, dass auch in einem künstlerisch orientierten Musikunterricht Anerkennungsprozesse, so wie sie Axel Honneth versteht, relevant sind. Sie bilden einen Gegenpol zu den gerade im Musikunterricht oft genutzten Teilhabe-Konzepten, mit denen z.B. Bläser-, Streicher- oder Singklassen begründet werden. Besonders in den nichtgymnasialen Schulformen werden solche Musizierklassen immer wieder als gerechtigkeitsfördernd beschrieben, weil sie dem privat finanzierten Instrumentalunterricht ein schulisch finanziertes Modell gegenüberstellen. Ob das jedoch eine realistische Alternative darstellt, ist zumindest umstritten.
Der theoretisch fokussierte Vortrag will zeigen, dass sich das Konzept der Anerkennung trotz seiner durchaus disparaten Entwicklung innerhalb der europäischen Moderne als ein normativer Rahmen für musikalische Bildung verstehen lässt. Dabei wird Anerkennung in diesem Sinn als Grundlage für Gerechtigkeit gesehen, die in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Musikunterricht der Sekundarstufe 1 (besonders in musizierend-kreativen Settings) stehen kann.
Als Alternative dazu wird die „Orientierung am Künstlerischen“ (Schatt 2021, S. 115) angeboten, die die Wechselwirkungen von individuellem ästhetischem Ausdruck und gesellschaftlichem System betonen kann. Zentral dabei ist die Produktion von Atmosphären, wie sie von Gernot Böhme als künstlerisches Paradigma verstanden wird. Insofern versucht der Praxisteil zu verdeutlichen, wie Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe 1 im Musikunterricht Atmosphären erzeugen, reflektieren und im Sinne gesellschaftlicher Anerkennungsprozesse einsetzen können.